Zeitlebens erregte Emma Kunz mit ihren Heilungen und Vorhersagen Aufsehen. Posthum wurde die Brittnauerin zur Künstlerin erklärt. Genau 60 Jahre nach ihrem Tod bekommt sie einen Werkkatalog.
Brittnau war Ende des 19. Jahrhunderts eine kleine landwirtschaftlich geprägte Dorfgemeinde. Auf den Strassen wirbelten Fuhrwerke Staub auf, sonntags ging man in die Kirche und kinderreiche Familien waren die Norm. Rosina Kunz wurde dem Bürgerregister zufolge zehn Mal Mutter – zwei Kinder starben ihr im Säuglingsalter. Am 23. Mai 1892 brachte sie ihr sechstes Kind zur Welt: Emma Kunz. Emma und ihre Geschwister erlebten keine einfache Kindheit. Das Familienoberhaupt, Stephan Oswald Kunz, war ein verarmter Handweber, seine Familie wohnte bei einem Bauern zur Miete. Das weiss Kurt Buchmüller. Er ist 88 Jahre alt und kannte Emma Kunz. Er sagt: «In Brittnau sprach man erst von ihr, als sie weltberühmt wurde.» Also vor 50 Jahren – zehn Jahre nach ihrem Tod.
Leidende diagnostizierte sie mithilfe ihres Pendels
Im Gespräch erzählt Kurt Buchmüller, einige Dorfbewohnerinnen und -bewohner hätten Emma Kunz als eine «absonderliche» und «komische» Frau bezeichnet und gemieden. Eltern hätten zum Teil ihre Kinder ins Haus hereingerufen, sobald sie vorbeilief. Buchmüllers Eltern gehörten nicht dazu – er selbst war während diesen Ereignissen ein Kind und Emma Kunz um die 50 Jahre alt.
Andererseits gab es auch Menschen, die die Seherin aufsuchten. Menschen mit seelischen oder körperlichen Leiden. Mithilfe ihres Pendels soll Emma Kunz die Leidenden diagnostiziert haben. Einige soll sie mittels Magnetisierung geheilt haben, andere versorgte sie mit Alternativmedizin, die sie aus natürlichen Zutaten herstellte. «Ich sah sie in den Wald gehen, um Kräuter zu pflücken», erinnert sich Kurt Buchmüller.
Emma Kunz ging als Heilerin durch den Alltag und vertraute dabei auf energetische und geistige Kräfte. Das allein ist aber noch nicht der Grund für ihren späteren Ruhm.
Der Gemeindeammann schenkte ihr das Papier
Im Jahr 1938 – sie war ungefähr 46 Jahre alt – begann Emma Kunz mit ihren heute als «Pendelzeichnungen» bekannten Bildern. Mit Bleistift, Farbstift und Ölkreide will sie innere Gesetzmässigkeiten und Kraftverläufe auf dem Papier kartografiert haben.
Dieses grossformatige Millimeterpapier habe Emma Kunz von Brittnaus Gemeindeammann geschenkt bekommen, schrieb einst Uli Däster, Lehrer und Autor. Beim Gemeindeammann musste es sich um Albert Gugelmann-Mordasini gehandelt haben. Dieser hatte damals das Amt inne und war Emma Kunz’ Nachbar, wie die Museumskommission der Gemeinde Brittnau bestätigt. Seine Frau, Charlotte Gugelmann-Mordasini, war eine enge Freundin von Emma Kunz sowie eine der wenigen Personen, die sie bei der Arbeit beobachten durften. Sie sagte in einem aufgezeichneten Interview vom 5. Januar 1974 über Emma Kunz: «Sie fing immer aus bestimmten Gründen so eine Zeichnung an, es war nicht nur Fantasie, sondern es ging immer etwas voraus: Sie suchte vielleicht etwas, erlebte etwas oder hörte eine Sache. Wenn sie dann eine Vorstellung dieser Sache hatte, musste sie es belegen, selbst zeichnen. Sie pendelte nicht immer zu diesen Zeichnungen. Sie wurde geführt – aus irgendeinem Bedürfnis heraus. Sie sagte immer, sie müsse das Mass und das Gesetz halten.»
So schuf Emma Kunz streng geometrische Modelle. Kaleidoskopische, hochkomplexe oder dreidimensionale Strukturen, die bei längerer Betrachtung optische Illusionen auslösen können. «Wie ist das möglich?», bemerkt Kurt Buchmüller zu den Zeichnungen, die manch einen Betrachter oder eine Betrachterin erstaunen. Zumal Emma Kunz nur die Volksschule besuchen konnte und nie in den Genuss einer künstlerischen Ausbildung kam.
Sie heilte einen Buben von der Kinderlähmung
Während Emma Kunz ihre ersten Bilder produzierte, grassierte in der Schweiz eine Kinderlähmungsepidemie. Als der Aargauer Anton C. Meier als Fünfjähriger vom Spital entlassen wurde, war er an beiden Beinen gelähmt und galt als unheilbar. Das hat er in seiner im Jahr 2003 erschienenen Publikation «Emma Kunz. 1892–1963» festgehalten. Als sein Vater von der Heilerin erfuhr, kam er 1942 mit seinem Sprössling nach Brittnau und besuchte sie in ihrem Haus. Sie hielt das Ende ihres Pendels mit der Jade-Kugel über dem Kopf von Anton C. Meier. Dann soll sie folgende Worte an seinen Vater gerichtet haben: «Herr Meier, ich kann Ihren Buben heilen. Dazu brauche ich ein spezielles Pulver, das ich im unmittelbaren Lebensbereich Ihres Sohnes finden werde.»
Emma Kunz reiste nach Würenlos. Anton C. Meiers Bericht zufolge liess sie sich von ihrem Pendel zu den ehemaligen Römersteinbrüchen leiten. Diese gehörten dazumal Meiers Grossvater, zu Bauzwecken wurde Muschelkalk abgebaut. Der Muschelkalk aus einer Grotte wurde gemäss Emma Kunz’ Anweisungen gemahlen und beim gelähmten Kind angewendet. Man machte ihm täglich Umschläge um die Knie- und Fussgelenke sowie einen Wickel rund um den Hals. Nach wenigen Monaten konnte Anton C. Meier wieder gehen.
Im Nachgang soll Emma Kunz regelmässig die Grotte besucht haben, die sie als ihren «Kraftort» bezeichnete. Zudem leitete sie erfolgreich die Zulassung des Würenloser Heilgesteins als Arzneimittel in die Wege und war auch im Vertrieb involviert. Sie nannte es «Aion A» – «aiónia» ist das griechische Wort für «ewig».
Sie erlag mit 70 Jahren einer Krebserkrankung
Emma Kunz hat nie ein Honorar für ihre Heilungen eingefordert, sondern höchstens Naturalien angenommen. Die Ausübung der Naturheilkunde war zu ihren Lebzeiten auch noch nicht anerkannt. Weil Alternativmedizin im Appenzell freier praktiziert werden konnte, zog Emma Kunz im Jahr 1951 nach Waldstatt. Dort verbrachte sie den Rest ihres Lebens, indem sie forschte, experimentierte, praktizierte und zeichnete.
Ihre Bilder pflegte sie in ihrem Arbeitszimmer aufzuhängen – sogar übereinander. Sie dienten Emma Kunz als Arbeitsinstrument, als Träger von Informationen. Es heisst, wenn jemand ihre Hilfe ersuchte, habe sie – je nach Fragestellung – eine Zeichnung von der Wand heruntergenommen. Mithilfe des jeweiligen Bildes soll sie zum Beispiel die Ursache einer Krankheit oder die Lösung eines Problems erraten haben.
Am 16. Januar 1963 erlag Emma Kunz in Waldstatt einer Krebserkrankung. Sie wurde 70 Jahre und 7 Monate alt und hinterliess rund 500 Zeichnungen – aber auch drei Prophezeiungen, die auf ihr Werk anspielen. Eine soll folgendermassen gelautet haben: «Zehn Jahre nach meinem Tod wird mein Werk weltbekannt.»
Im Jahr 1973 – zehn Jahre nach Emma Kunz’ Tod – fand die Ausstellung «Fall Emma Kunz» im Aargauer Kunsthaus in Aarau statt. Damit wurde sie nicht nur posthum als Künstlerin aufgefasst; die Ausstellung fand mit tiefgründigen Analysen von Kunstexperten und Psychologen weltweit Resonanz.
Wie es zur ersten grossen Ausstellung kam
Wie aus einem Artikel aus dem Aargauer Tagblatt vom 19. Januar 1974 – er trägt den Titel «Keine ‹lachenden Erben› im Fall Emma Kunz» – hervorgeht, gelang Emma Kunz’ Nachlass in die Hände ihres Neffen Otto Kunz. Als dieser den Wert der Zeichnungen schätzen liess, wurden sie als wertlos befunden. Trotzdem bewahrte er sie auf – bis eines Tages Anton C. Meier, inzwischen Galeriebesitzer, mit ihm in Kontakt trat.
Nach Otto Kunz’ Schilderungen im Artikel bekundete Anton C. Meier bei einem Besuch Interesse für die Zeichnungen, man möge sie ihm «zum Andenken» und «Ausschmücken seiner Wohnung» geben. Daraufhin schenkte ihm Otto Kunz einen Grossteil des Nachlasses. Da er Briefmarkensammler war, habe ihm Anton C. Meier im Nachhinein Marken im Wert von einigen hundert Franken geschenkt – mit der Bitte, schriftlich zu bestätigen, dass Anton C. Meier die Zeichnungen aus dem Nachlass käuflich erworben hat.
Damit konfrontiert, erklärte Anton C. Meier im gleichen Artikel: «Wir haben eine andere Regelung vorgenommen.» Später habe er einige Kunsthausdirektoren zu einer Besichtigung der Bilder eingeladen. Einer davon war Heiny Widmer, der damalige Kurator des Aargauer Kunsthauses. Und so fügte es sich, dass die grosse Ausstellung im Aargau stattfand. Freilich: Nicht jeder verfügt wie Anton C. Meier über das Kunst-Know-how, die Verbindungen in der Szene sowie die Zeit und das Geld, um ein Bilderwerk wie das von Emma Kunz an die Öffentlichkeit zu tragen.
Kurt Buchmüller kannte Otto Kunz, die beiden sangen gemeinsam im Brittnauer Männerchor. Er sagt, Kunz sei im Laufe der Jahre zur Meinung gelangt, keinen Fehler begangen zu haben. «Er war sehr bodenständig und nicht ehrgeizig», so Buchmüller. Hans Scheibler ist ein weiterer Brittnauer, der Emma Kunz’ Neffen gekannt hat. Er sagt: «Otto Kunz war eine Weile sehr betrübt darüber, dass er die Bilder verschenkt hatte. Ich ermunterte ihn – er solle doch froh sein, dass ein anderer wusste, was damit anzustellen ist.»
Ihr zu Ehren gründete er ein Zentrum
Wie steht die Emma Kunz Stiftung heute zu diesem Kapitel? Diese hat den Zweck, das Bildwerk von Emma Kunz zu schützen, zu erhalten und bekannt zu machen. Gegründet wurde sie von Anton C. Meier im Jahr 2017 – kurz vor seinem Tod. Dabei überführte er den Nachlass von Emma Kunz aus seinem Privatbesitz in die Stiftung. Karin Kägi, die Präsidentin, sagt: «Dass Emma Kunz’ Werk mit all seinen Facetten so bekannt wurde, ist Herrn Meiers jahrzehntelanger Arbeit zu verdanken.»
Als Anton C. Meier im Jahr 1985 die Firma in Würenlos von seinem Vater übernahm, waren die Muschelkalk-Steinbrüche eingegangen – nun war Beton gefragt in der Bauindustrie. Innerhalb eines Jahres rief Meier, der vormals auch als Marketingspezialist tätig gewesen war, das Emma Kunz Zentrum ins Leben. Damit soll ein Wunsch von Emma Kunz in Erfüllung gegangen sein, denn sie soll gesagt haben: «Möge an diesem Ort der Kraft eine Begegnungsstätte entstehen, wo kulturelles, geistiges und heilendes Schaffen sich vereinen.»
«Eine Begegnungsstätte für heilendes Schaffen»
Das Emma Kunz Zentrum in Würenlos ist ein rund fünf Hektar grosses, mehrheitlich
bewaldetes Gelände. Dieses umfasst ein Museum und eine Teestube – in ehemaligen
Industriegebäuden, die im sogenannten Mozart-Gelb angestrichen wurden. Weiter die
imposanten Steinbrüche mit der Grotte, in der Emma Kunz ihr Heilgestein entdeckt hat.
Menschen aus der ganzen Welt besuchen die Grotte, um ihre ausgleichende Wirkung
auf Körper und Geist zu erleben. Das Emma Kunz Zentrum wird nach eigenen Angaben
von mehreren Tausend Menschen im Jahr besucht.
«Mein Bildwerk ist für das 21. Jahrhundert bestimmt»
Fortan trat Anton C. Meier als Emma Kunz’ Nachlassverwalter auf und setzte sich dafür ein, ihr Schaffen bekannt zu machen. Zwar wurde ihr Werk nach der ersten Ausstellung unter anderem auch in Düsseldorf und Paris gezeigt, doch es blieb – vorläufig noch – an den Rändern der Kunstwahrnehmung.
Vor der Jahrtausendwende geriet Anton C. Meier mit dem Projekt in finanzielle Schwierigkeiten. Im Jahr 2005 konnte er aber das Steinbruchareal, auf dem das Emma Kunz Zentrum steht, wieder von der Gemeinde Würenlos zurückkaufen – diese hatte es zwischenzeitlich erworben. Das Emma Kunz Zentrum war ihm zweifellos wichtig. Zudem hatte Emma Kunz’ zweite Prophezeiung zu ihrem Werk noch in Erfüllung zu gehen: «Mein Bildwerk ist für das 21. Jahrhundert bestimmt.»
Das Interesse an Emma Kunz stieg tatsächlich und gipfelte in ihrer Präsenz an der Biennale Venedig 2013 sowie 2019 in einer vom prominenten Schweizer Kurator Hans Ulrich Obrist initiierten Ausstellung in der Londoner Serpentine Gallery.
Und im Jahr 2021 gab es wieder eine grosse Ausstellung im Aargauer Kunsthaus: «Kosmos Emma Kunz». In der Begleitpublikation schrieb die Kuratorin Yasmin Afschar: «Zurückgezogen und fern vom Kunstgeschehen lebte Emma Kunz vor, was in der Kunstwelt heute allgegenwärtig ist: einen erweiterten Kunstbegriff, der die Frage nach Kunst oder Nicht-Kunst ablehnt und stattdessen verschiedenste Handlungsfelder – Forschung, Medizin, Naturkunde ebenso wie das Spirituelle, Animistische und Visionäre – einbezieht.»
Ein Werkverzeichnis von Emma Kunz entsteht
«Es ist wichtig, dass die Allgemeinheit Zugang zum Gesamtwerk von Emma Kunz hat», sagt Karin Kägi. Darum hat die Stiftungspräsidentin die Erstellung eines Werkverzeichnisses initiiert. Ein solches versammelt alle Werke einer Künstlerin oder eines Künstlers. Den Auftrag vergab sie den beiden Kunsthistorikerinnen Dr. phil. Bettina Kaufmann und Dr. phil. Sabine Kaufmann Staub aus Zürich. Diese nahmen die Arbeit im November 2021 in Angriff.
Was diese erschwert: Da sich Emma Kunz nicht als Künstlerin verstand, hat sie ihre Werke weder signiert noch datiert. Sie hat höchstens Randnotizen wie «oben», «unten», «wichtig», «Weihnachten» oder «Neujahr» hinterlassen. «Diese sind aber nur ganz spärlich im Gesamtwerk», sagt Bettina Kaufmann. Somit können die beiden Kunsthistorikerinnen das jeweilige Jahr, in dem Emma Kunz ein Bild gezeichnet hat, nur vermuten.
Was die Arbeit wiederum vereinfacht: Heute befindet sich der grösste Teil des Bildwerks, 475 Zeichnungen, im Besitz der Stiftung. Der zweitgrösste Teil ist im Besitz des Aargauer Kunsthauses. Der Rest ist verstreut in Privatbesitz. «Es gibt Werke, von deren Existenz wir wissen, aber bis jetzt noch keine Spur haben», sagt Bettina Kaufmann. Auf der anderen Seite gibt es auch Bilder, von deren Existenz man überhaupt nichts weiss. Ein solches hängt bei Kurt Buchmüller zuhause. Er erklärt, Otto Kunz habe es ihm geschenkt.
Um es zu sehen, besuchen ihn die beiden Kunsthistorikerinnen. Buchmüller holt das Original hervor, es hat ungefähr die Grösse eines A4-Blatts. Sabine Kaufmann bemerkt: «Es gibt nicht viele Bilder dieses Formats.» Im Papier sind klare Einstichstellen von einem Zirkel zu erkennen – nebst diesem dienten Emma Kunz auch Lineal und Schablonen als Hilfsmittel.
Im Frühjahr 2023 wird das Werkverzeichnis ausschliesslich digital veröffentlicht, indem es auf der Website des Emma Kunz Zentrums zur Verfügung gestellt wird. So kann es laufend ergänzt werden. Zudem wird es in das Recherche-Portal des Schweizerischen Instituts für Kunstwissenschaft integriert, was die Reichweite vergrössert.
Die verschlüsselten Botschaften entziffern
«Nicht alle Wünsche von Emma Kunz sind in Erfüllung gegangen, doch hat sie nie die leiseste Klage verlauten lassen», schrieb der Brittnauer Dorfchronist Fritz Lerch am 18. Januar 1963 in einem Nachruf. Ein Wunsch ist sicher in Erfüllung gegangen: Sie wurde in Brittnau begraben. Und sonst? Vielleicht wünschte sie sich, mit ihren Zeichnungen zu beweisen, dass es die Gesetzmässigkeiten der Natur, die sie spürte, gibt. Und vielleicht stösst eines Tages jemand auf das Bildwerk, der seine verschlüsselten Botschaften zu entziffern weiss. Emma Kunz schien sich dessen sicher zu sein. Ihre dritte Prophezeiung lautete: «Die Zeit wird kommen, in der man meine Bilder versteht.»
Ilir Pinto
30-Jähriger aus Zürich, der die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern mit einem Volontariat beim Zofinger Tagblatt absolviert hat. Aktuell ist er Redaktor und Content Creator bei der Zürcher Kommunikationsagentur Viva.
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