Während der Pandemie musste ein Mode-Student zuhause ein Atelier einrichten. Dort arbeitete er an seiner Abschlussarbeit, deren Designs ein Blickfang sind. Er verrät, was dahintersteckt.

Im Atelier sind viele sonderbare Dinge zu sehen. An der Wand hängen mehrere braune Papiertüten, in der Ecke steht eine Nähmaschine, auf einer Büste liegt ein Stricktuch mit geschmolzenem rotem Bioplastik und überall verteilt liegen bunte Etiketten, die mit “Paolo Donatello Mereu” bestickt sind. Das ist nicht nur die Marke, sondern auch der volle Name von Paolo Mereu. Der 27-Jährige näht gerade an einem neuen Kleidungsstück. Die Nähmaschine rattert und aus seinem Schlafzimmer nebenan drängt Popmusik. Im Frühjahr hat er sein Mode-Design-Studium abgeschlossen und arbeitet seither in seinem Atelier – im zweiten Stock seines Elternhauses in Zürich-Altstetten.

Eigentlich ist Mereu im September 2017 von zuhause ausgezogen. Er nahm sich damals eine kleine Wohnung in Basel, weil er an dort der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) studierte. Doch nach zwei Jahren räumte er die Wohnung wieder, denn im fünften Semester musste er ein Praktikum belegen. Und dafür hatte er eine Stelle in New York gefunden. “Als ich Anfang 2020 zurückkehrte, kam Corona. Wir durften plötzlich nicht mehr in die Schule, was uns alle überrumpelt hat”, sagt er. Er und seine Mitstudierenden hatten an der FHWN ein grosses Atelier sowie einzelne Arbeitsplätze, wo sie zum Beispiel Schnittmuster anfertigten.

“Ich war im sechsten Semester, welches für die Research für die Abschlussarbeit gedacht ist. Zwar hatten wir dadurch passenderweise weniger Unterricht – und wenn, dann per Zoom –, aber ich brauchte einen Platz, um zu arbeiten.” Also stellten ihm seine Eltern das Gästezimmer zur Verfügung. Mit seinem Bruder schreinerte er einen Arbeitstisch, kaufte sich eine industrielle Nähmaschine zu einem guten Preis, eine gebrauchte Büste und alles, was er sonst so brauchte, um die Infrastruktur der FHNW zuhause nachzuahmen. Und so entstand sein Atelier.

Die Looks haben einen “absurden Moment”

Die FHNW lässt den Studierenden viele Freiheiten. Dies merkt man nicht nur an Mereus Wortwahl, die gespickt ist mit englischen Ausdrücken. Er sagt: “Die Schule, an der ich studiert habe, verfolgt einen speziellen Approach – einen holistischen Ansatz. Ich hatte die Möglichkeit, mich auszutoben.” So habe er damals mit unkonventionellen Materialien gearbeitet und Kunst mit Couture kombiniert. Zentral in seiner Abschlussarbeit war die typisch amerikanische Brown Paper Bag. Darin müssen alkoholische Getränke verhüllt werden, wenn man sie in der Öffentlichkeit konsumieren möchte, ohne gegen das Gesetz zu verstossen. Er erklärt:

Die “Krallen-Boots”, die Mereu im Video erwähnt, sind chromblitzende Stiefeletten mit Alligatorenkrallen. Sie waren ein Blickfang seiner Kollektion für die Abschlussarbeit. Er wollte damit einem schönen Häkel-Look einen “absurden Moment” verleihen. An einem Model sah das dann so aus:

Es war ein “bitterer Moment” für ihn

“Der Faktor, nicht zu wissen, was als Nächstes passiert, hat sich durch das ganze Thesis-Jahr gezogen”, sagt Mereu. Das Jahr war begleitet von mehreren Fittings (Anproben). Und mit diesen sah sich Mereu vor der nächsten Herausforderung: Er musste die Zwischenresultate seiner Arbeit mehrmals mit dem Auto von Zürich nach Basel transportieren, um sie dann im Freien an Models zu zeigen. “Die Situation war sowohl für die Studierenden als auch die Mentorinnen und Mentoren eine Challenge.” Aber funktioniert hat es.

Am Ende des siebten und letzten Semesters musste Mereu seine Abschlussarbeit präsentieren. Diese überzeugte die Dozentinnen und Dozenten sowie eine externe Jury und Mereu bekam das Diplom für seinen Bachelor of Arts FHNW in Produkt- und Industriedesign mit Vertiefung in Mode-Design. Eigentlich hätte die Präsentation als Modeschau mitsamt Gästen in Basel stattfinden sollen. “Es war ein bitterer Moment, als sich herausstellte, dass alles nur digital stattfinden durfte”, sagt Mereu. Dennoch freut er sich über das Video, das dabei entstanden ist:

Eins der Models, die im Video erschienen sind, ist Mereus Schwester. Mereus Familie kommt aus Sardinien. Die Insel, die er als seine “zweite Heimat” bezeichnet, war eine weitere Quelle der Inspiration für seinen Abschluss. So ist es kein Zufall, dass Mereu teilweise dort das Sourcing betrieben hat, das Suchen und Beschaffen von Stoffen. Zum Beispiel von Pibiones, einem sardischen Teppichstoff. “Bei seiner speziellen Webtechnik entsteht ein Reliefmuster”, sagt Mereu. Es sei schwierig, mit dem Material zu nähen, die Methode dazu habe er selber entwickelt. Er holt einige der Stoffe aus Sardinien hervor und zeigt sie:

Upgecycelte Kleider für jede und jeden

Aktuell produziert Mereu Kleidungsstücke, die “näher an den Leuten” sind. “In der Mode hat man immer mit Grössentabellen zu tun. Meine Upcycling-Kleider haben einen Oversized-Schnitt. Man kann sie durch das Styling individuell dem Körper anpassen”, sagt er. Er wolle keine Zielgruppe haben, seine Mode soll allen zugänglich sein.

Nebst diesem Aspekt, den er längerfristig verfolgen will, arbeitet Mereu seit einiger Zeit an einer Upcycling-Kollektion. Er nimmt das Hemd, an dem er soeben genäht hat, in die Hände und. “Dieses Piece habe ich aus alten Hemden zusammengesetzt. Ich benutze alte Kleider von mir, kaufe secondhand, im Brockenhaus, an Flohmärkten oder Dead Stock – das ist Stoff, der sonst weggeschmissen wird – werte sie auf und gebe ihnen neues Leben.” Er zeigt einige der Designs, die so entstanden sind:

Mereu steht noch am Anfang seiner Karriere. “Ich werde bald meinen Online-Shop lancieren. Und ich plane, Pop-up-Sales zu machen, um meine Kleider zu verkaufen.” Sein Wunsch ist es, ein Master-Studium im Ausland zu absolvieren. Sobald es die Situation rund um die Pandemie zulässt.