Am 24. Februar 2022 überfiel Russland sein Nachbarland, die Ukraine, und bezeichnete dies als eine «spezielle Militäroperation». Seither widmet sich der ukrainische Künstler Danylo Movchan dem Malen von Aquarellen, um auf den Krieg aufmerksam zu machen – in der Hoffnung auf Hilfe.
Am 24. Februar 2022 überfiel Russland sein Nachbarland, die Ukraine, und bezeichnete dies als eine «spezielle Militäroperation». Seither widmet sich der ukrainische Künstler Danylo Movchan dem Malen von Aquarellen, um auf den Krieg aufmerksam zu machen – in der Hoffnung auf Hilfe.
Er begann am zweiten Tag des Kriegs damit. «Ich kann nichts sagen. Ich kann nur ein Aquarell pro Tag malen. Ich habe keine Worte», erklärte Danylo Movchan damals. Fortan teilte der ukrainische Künstler jeden Tag ein neues Werk, das den russischen Angriffskrieg thematisiert, in den sozialen Medien. Er nutzt die Reichweite des Internets, um der Welt das Schicksal seines Volks näherzubringen. Worte fand er schliesslich Anfang April 2022: «Die Welt und Europa müssen verstehen, dass dieser Krieg ein Produkt der russischen Kultur und der Russisch-Orthodoxen Kirche ist.»
Ein Aquarell mit dem Titel «Zum Sieg» markierte den Anfang. Es zeigt einen Angriff auf ein blau-gelbes Haus – und viel Rot. «Aber trotz des Blutes, in dem Russland uns zu ertränken versucht, steht das Haus fest. Und es wird stehen bleiben», erklärte der Künstler sein Werk.
Auch andere Bilder enthalten Blau und Gelb, die Farben der ukrainischen Flagge. Sie zeigen grauenhafte Szenen und enthalten viel Symbolik, wie zum Beispiel Kämpfer mit Schwertern oder Bombenhagel aus Totenschädeln.
Ein Aquarell zeigt Kyrill I., den Patriarchen der Russisch-Orthodoxen Kirche, mit Blut an den Mundwinkeln. Danylo Movchan erklärt dazu: «Für mich ist er kein Christ. Kyrill hält ein paar Reden, trägt patriarchalische Kleidung, aber das macht ihn weder zu einem Patriarchen noch zu einem Menschen, denn er unterstützt das Blutvergiessen.»
Ein weiteres Aquarell zeigt einen entblössten und verwundeten Menschen, rechts von ihm reihenweise Gräber, darüber ein Kreuz. «Es ist das Kreuz, das der Ukraine durch den Krieg auferlegt ist», deutete mir Max Hartmann dieses Kunstwerk.
Durch ihn habe ich im April des letzten Jahres von der Arbeit Danylo Movchans erfahren. Zu dieser Zeit war Max Hartmann noch Pfarrer in der Reformierten Kirchgemeinde Brittnau im Kanton Aargau – inzwischen ist er ihm Ruhestand. Er führt einen Blog, auf dem er unter anderem seine Gedanken sowie übersetzte Texte rund um den Krieg in der Ukraine teilt.
Das Land liegt ihm am Herzen: Im Jahr 2017 besuchte Max Hartmann die Ukraine und erwarb dort eine moderne Ikone, in der IconArt Gallery, einer Galerie für sakrale Kunst in der westukrainischen Stadt Lwiw. Auf der Website der Galerie stiess er auf den Künstler Danylo Movchan, mit dem er seither im Kontakt steht.
Im April 2022 präsentierte Max Hartmann in der Stadtkirche von Zofingen neun Kopien der Aquarelle von Danylo Movchan. Eines der Bilder kener Ausstellung hinterliess bei mir einen besonderen Eindruck; es zeigte den gekreuzigten Jesus Christus. Es sollte nicht das einzige mit diesem Motiv bleiben.
Danylo Movchan, geboren 1979, macht zeitgenössische sakrale Kunst. So auch seine Frau Yaryna. Beide haben an der Lemberger Kunstakademie studiert. Das Paar lebt gemeinsam mit seinen beiden Kindern Gleb und Barbara in Lwiw. «Ich bin gläubig und gehöre der ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche an», hält Danylo Movchan fest. Danylo und Yaryna Movchan stellen hauptsächlich Ikonen nach ukrainischer Tradition her.
Die Ikonenmalerei entwickelte sich aus der frühchristlichen Kunsttradition des Orients und ist eine jahrhundertealte Tradition mit spezifischen Regeln. Ab dem 6. Jahrhundert entstand in Byzanz ein staatlicher Kult um Ikonen. Diese zeigen Heilige oder biblische Ereignisse. Die Heiligenbilder werden heute überwiegend von orthodoxen Christen verehrt und gehören in den Ostkirchen zur Liturgie, sie vermitteln den christlichen Glauben. Ikonen werden zudem nicht nur in Kirchen, sondern auch in privaten Haushalten aufgestellt.
Am 15. Februar 2023 schrieb Max Hartmann in seinem Blog: «Bedingt durch den Atheismus als Staatsreligion wurde in der Sowjetunion die jahrhundertealte Tradition der Ikonenmalerei unterbrochen. Statt eine Ikone im eigenen Haus war das Bildnis von Lenin, Stalin oder späteren Staatsführern erwünscht. Viele Ikonen wurden zerstört und wertvolle Exemplare auf dem Kunstmarkt im Westen angeboten – als begehrte Devisenquelle für die Sowjetunion. Mit der Gründung einer unabhängigen Ukraine wurde eine freie Religionsausübung wieder möglich. Dies führte auch zu einer Wiederbelebung der traditionellen Ikonenmalerei.»
Zusätzlich entwickelten junge Künstlerinnen und Künstler eine neue, zeitgenössische Form der Ikonenmalerei. Es sind genau solche modernen Ikonen, die die beiden Lemberger Ikonographen Danylo und Yaryna Movchan schreiben.
Lwiw, im deutschsprachigen Raum manchmal auch als Lemberg bezeichnet, ist die westlichste und europäischste Metropole der Ukraine. Es war einst Teil des Habsburgerreichs und gehörte zu dessen östlichsten Provinz Galizien. Lwiw hat eine reiche und multikulturelle Geschichte, sein historisches Zentrum ist UNESCO-Weltkulturerbe.
Die Stadt mit einer Bevölkerung von rund 720’000 Menschen ist bisher weitgehend von russischen Raketenangriffen verschont geblieben. Im März 2023 kamen jedoch laut Angaben ukrainischer Behörden mindestens sechs Menschen in der Nähe von Lwiw ums Leben, als eine Rakete ein Wohngebiet traf. Die Infrastruktur im Umland wird immer wieder beschädigt – manchmal sind ganze Viertel oder Strassenzüge ohne Strom –, doch die Stadt selbst wurde bislang verschont. Dennoch wurden Vorkehrungen getroffen, um in der Altstadt Kulturgüter wie Denkmäler im Falle eines Angriffs zu schützen.
Die Oblast Lwiw (Oblast ist der russische und ukrainische Begriff für «Verwaltungseinheit» und kann mit «Region» gleichgesetzt werden) umfasst eine Bevölkerung von rund 2,5 Millionen Menschen. Nach Angaben der Regionalverwaltung halten sich derzeit rund 250’000 Flüchtlinge aus anderen Landesteilen der Ukraine in der Oblast Lwiw auf. Die Flucht ist für Danylo Movchan und seine Familie keine Option.
Der ukrainische Künstler bezeichnet seine Aquarelle als einen «Aufschrei», als eine «scharfe, emotionale Reflexion einer neuen Realität». Mitte Mai 2022 hatte er bereits 54 Aquarelle angefertigt – mittlerweile sind es noch viel mehr. Seine Arbeit als Ikonograph hatte er vorübergehend eingestellt, da er «weder Ruhe noch Frieden in sich selbst fand». Unterdessen schreibt er aber wieder Ikonen.
Ein Aquarell zeigt einen Soldaten, der sich gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin verteidigt, der als todbringende Schlange dargestellt wird. Das Werk trägt den Titel «Das Ende des Bösen». Danylo Movchan erklärt: «Ich bin überzeugt, dass wir auf das Ende des Krieges und das Ende des Bösen, das in das ukrainische Land eingedrungen ist, warten.»
Bis dahin wird er weiterhin, wie jetzt, gelegentlich Aquarelle zum Krieg malen, aber nicht mehr täglich. «Den Umständen entsprechend geht es ihm und der Familie gut», sagt Max Hartmann. «Die anhaltende Spannung durch den Krieg fordert Substanz, doch die Kunst als Mittel zur Verarbeitung hilft.»
Ilir Pinto
30-Jähriger aus Zürich, der die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern mit einem Volontariat beim Zofinger Tagblatt absolviert hat. Aktuell ist er Redaktor und Content Creator bei der Zürcher Kommunikationsagentur Viva.
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