Die Ausstellung «Vitamin» des Künstlers Augustin Rebetez im Aargauer Kunsthaus lädt zu einer Entdeckungsreise durch seine ungewöhnliche und manchmal beklemmende Gedankenwelt ein.
Der Nervenkitzel beginnt schon beim Betreten des ersten Raumes. Auf einer roten Zwischenwand prangt der Schriftzug: «Vitamin, a Show by Augustin Rebetez, Yeah». «Vitamin», so heisst die Ausstellung des jurassischen Fotografen, Filmemachers und bildenden Künstlers mit Jahrgang 1986. Und «Yeah» kann gelesen werden als «Jawoll, so ist es».
Hinter der Zwischenwand dröhnt eine Stimme aus Lautsprechern. Der Text wird in grossen Lettern an die Wand gebeamt. Der Redner spricht voller Zynismus. «I will die sending e-mails. With my last breath I’ll press Enter», sagt er und zählt Dinge auf, die in dieser Zeit allgegenwärtig sind, wie «Hybrid Toyota», «cryptocurrency» oder «FFP2 mask». Der Wortschwall erinnert an Tiktok-Videos, wo auch alles schnell gehen muss (um die Aufmerksamkeit des Publikums aufrechtzuerhalten). Weiter meint er, würde man seine Seele ausdrucken, würde sie ein Bestseller werden. Denn er habe Probleme, und Menschen lieben es, über Probleme anderer zu lesen. Hier lässt jemand seine Frustration raus, rechnet auf zynische Art und Weise mit sich selbst, seiner Umwelt und der Gesellschaft ab und entlarvt sie alle. Die audiovisuelle Präsentation ist ein intensiver Vorgeschmack auf das, was einen erwartet.
Jeder Raum ist einzigartig. Es gibt skurrile Skulpturen und Figuren, beklemmende Fotografien sowie Zeichnungen und Gemälde, die oft von schamanischen Motiven inspiriert sind. Auch Installationen und Szenografien sind zu finden, wie etwa Kästen mit seltsamen Objekten wie Talismane und tote Fliegen oder Installationen aus defekten Geräten und sterbenden Pflanzen.
An einer Wand sind Totems, sie zeigen Masken und humanoide oder tierartige Wesen, die möglicherweise Geister darstellen. Auf der benachbarten Wand steht ohne Punkt und Komma:
In der Mitte der Ausstellung befindet sich ein Kino, das auf drei unterschiedlichen Flächen einen Stop-Motion-Film zeigt. Die Figuren können sich von einer Fläche zur nächsten bewegen, und manchmal spielt sich die Haupthandlung nur auf der mittleren Hauptfläche ab. Der 13-minütige Film zeigt äusserst eigentümliche Szenen, in denen Rituale praktiziert werden. In einer legt sich ein Patient auf eine Liege, während ihn eine andere Figur mit langen Stäben an den Fingern «behandelt»: Sie zieht einen zweiten Körper aus Alufolie aus seinem (vielleicht seine Seele?) und vernichtet diesen mitsamt dem Patienten.
Das Hauptaugenmerk der Ausstellung liegt aber auf «The Black Church». Augustin Rebetez hat eine begehbare Kapelle ins Kunsthaus gestellt, umsäumt von einem Friedhof aus Symbolen, die an Voodoo erinnern könnten. Beim Betreten der Kapelle. kann man ein Blatt Papier ergreifen, auf dem steht: «Für die Gesundheit der gefährdeten Geister ist hier eine friedvolle Kapelle gebaut worden». Teuflisch trifft es besser; die Kapelle ähnelt eher einem Hexenhaus, drinnen gibt es Figuren mit Hörnern und die Atmosphäre wird von schaurigen Geräuschen aus Lautsprechern unterstrichen. Ebenso gut hätte der Song «If I Had a Heart» von Fever Ray hierher gepasst.
Ein ebenfalls in Augustin Rebetez’ Werk oft wiederkehrendes Symbol ist das «X». Dieses wird häufig von Computerprogrammen verwendet, um einen Fehler oder eine Störung anzuzeigen. Falls das auch bei Rebetez so ist, bleibt die Frage, wo der Künstler einen Fehler sieht. Vielleicht in der heutigen Gesellschaft? Dass er Kunst schaffen müsse, um nicht völlig durchzudrehen, besagt eines seiner «Ten Commandments» in der Ausstellung.
Augustin Rebetez vergleicht Kunst mit einem Vitamin. Seine danach benannte Ausstellung, die sich über zwölf Räume erstreckt, als einen Rundgang zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung; sie ist eine Erkundungstour. «Vitamin» ist eine Explosion, eine Reizüberflutung, ein Gesamtkunstwerk, das zum Nachdenken anregt über den Zustand der Menschheit und was ihr in der Zukunft blüht.
Augustin Rebetez’ «Vitamin» ist bis 29. Mai im Aargauer Kunsthaus in Aarau zu sehen.
Ilir Pinto
30-Jähriger aus Zürich, der die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern mit einem Volontariat beim Zofinger Tagblatt absolviert hat. Aktuell ist er Redaktor und Content Creator bei der Zürcher Kommunikationsagentur Viva.
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