Es gibt jedes Jahr mehr Weissstörche. Nicht nur im Storchendorf Brittnau, auch schweizweit. Eine Suche nach Gründen.
Die Störche sind wieder zurück in Brittnau. Storchenvater Peter Hartmann freut sich: 16 Brutpaare würden sich auf das Brüten vorbereiten. Das sind 32 erwachsene Weissstörche, die über Brittnau fliegen. Die meisten Störche der Brittnauer Kolonie haben die kalten Jahreszeiten in Südspanien zugebracht und sind in den letzten Tagen und Wochen wieder zurückgeflogen. Aus diesem Grund gelten die Zugvögel seit jeher als Frühlingsboten. Die Jungen vom letzten Jahr sind nicht zurückgekehrt; sie ziehen herum und lassen sich dort nieder, wo es ihnen passt. Und wenn sie geschlechtsreif sind, kommen sie zurück. Das wird im Alter von etwa drei Jahren der Fall sein.
«Nur zehn Prozent der Jungstörche erlebt das», sagt Peter Hartmann. Zudem kämen nicht alle wieder nach Brittnau. Nicole Wellinger von der Gesellschaft Storch Schweiz erklärt: «Findet ein Jungstorch bei seiner Rückkehr einen Nistplatz und eine Partnerin und stimmt das Nahrungsangebot, bleibt er an seinem Geburtsort. Wenn nicht, zieht er weiter.» Die Gesellschaft setzt sich unter anderem für die Verbesserung des Lebensraumes für den Storch ein.
Nichtsdestotrotz stellt Peter Hartmann erfreut fest, dass es mit jedem Jahr mehr Störche in Brittnau gibt. In den Jahren 2013 bis 2016 waren es zwischen 5 und 9 Brutpaare pro Jahr. Im Jahr 2021 waren es 18. Seit 34 Jahren ist der 74-Jährige verantwortlich für ihr Wohlergehen. Einige seiner Aufgaben: Er päppelt verletze Vögel auf, bringt, wenn möglich, den Jungen einen Ring mit einer Nummer an und zählt den Bestand. Dieser ist in der Schweiz sehr gut dokumentiert. Laut Livio Rey, Biologe bei der Vogelwarte Sempach, gab es in den Jahren 2013 bis 2016 bei den Weissstörchen pro Jahre zwischen 370 und 460 Brutpaare. Im Jahr 2021 wurden 795 Paare gezählt. Nicole Wellinger bestätigt: «In den letzten Jahren hatten wir einen regelmässigen Anstieg des Bestandes.»
Es ist kaum zu glauben, denn in der Schweiz galt der Weissstorch vor 70 Jahren in der freien Wildbahn als ausgestorben. Ein Grund dafür war die Intensivierung der Landwirtschaft mit der Trockenlegung von Feuchtgebieten, wodurch die Störche ihre wichtigen Nahrungsquellen und langjährigen Brutplätze verloren hatten. «Die Entwicklung war wohl zu schnell für den Weissstorch, um sich anzupassen», sagt Rey. Er sei nun mal nicht so anpassungsfähig wie beispielsweise die Rabenkrähe. Störche leben länger – sie werden mindestens 20 Jahre und manchmal über 30 Jahre alt – und sind auf grössere Gebiete mit Feuchtwiesen oder Tümpeln angewiesen für ihre Nahrung. Ein weiterer Grund für ihr damaliges Verschwinden in der Schweiz ist, dass es im afrikanischen Winterquartier aufgrund von Dürren keine Nahrung mehr gab und deshalb viele Störche starben.
Über Jahrzehnte nach ihrem Aussterben lebten die Vögel in Storchenstationen, wo sie gefüttert und gepflegt wurden. Diese waren über die ganze Schweiz verteilt. Ermöglicht hatte dies Max Bloesch, der erste Storchenvater der Schweiz. Bloesch führte im Rahmen eines Wiederansiedlungsprojektes ab 1948 Weissstörche in die Schweiz ein, da sich ihr Aussterben in der freien Wildbahn abzeichnete. «Es ist erfreulich, dass die Gefährdung des Weissstorchs zurückgestuft werden konnte. Heute steht er nicht mehr auf der Roten Liste der bedrohten Arten, sondern gilt ‹nur› noch als potenziell gefährdet», sagt der Biologe. Die Artenförderung bleibt weiterhin wichtig.
Seit über 20 Jahren wieder in freier Wildbahn
Eine der Storchenstationen war in Brittnau. Beim Gang durch das Storchendorf hört und sieht man viele Tiere, die mit dem Schnabel klappern oder an ihrem Horst arbeiten. Peter Hartmann zeigt, wo sich die Station damals befunden hat. Im Jahr 1997 konnte sie geschlossen werden. Seither leben die Brittnauer Weissstörche in freier Wildbahn. Wie kommt es, dass sich die Art nach ihrem Aussterben in der Schweiz wieder so gut eingefunden hat? «Nach der Wiederansiedlung konnte sich der Weissstorch mit der Landwirtschaft zurechtfinden», sagt Livio Rey. Zudem würden die Störche nicht mehr nach Afrika und über die Sahara fliegen, sondern nur noch bis nach Spanien. «Durch die kürzeren Zugwege überleben mehr Störche», erklärt Rey.
Hinzu kommt, dass immer mehr Weissstörche über die kalten Jahreszeiten in der Schweiz bleiben. Da es mittlerweile im Winter nicht mehr so viel Schnee hat, gibt es im Winter genug Nahrung für die Vögel. Der Weissstorch ernährt sich unter anderem von Insekten, Regenwürmern, Mäusen und Fröschen. «Sechs Störche sind über den Winter in Brittnau geblieben», sagt Peter Hartmann. Das sind in der Regel ältere und erfahrene Exemplare, die wissen, dass es hier auch im Winter genug Nahrung gibt.
Ilir Pinto
30-Jähriger aus Zürich, der die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern mit einem Volontariat beim Zofinger Tagblatt absolviert hat. Aktuell ist er Redaktor und Content Creator bei der Zürcher Kommunikationsagentur Viva.
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