Auf den Saiten erzeugt die Aarburger Pipa-Virtuosin Jing Yang Klänge, die bisweilen wie das Klimpern von Wassertropfen in einem Tal klingen.
Von hier oben hat man eine grossartige Sicht hinab auf Aarburg und zur Alpenkette. Fern vom Treiben des Bahnhofs dort unten ist es ruhig hier. Wie ihr Vorname, Jing. Der bedeutet auch «ruhig». «Aussprechen tut man ihn wie beim englischen Wort Jingle», erklärt Pipa-Virtuosin Yang, die in Aarburg wohnt. Hierzulande würden viele ihren Namen falsch aussprechen. Das «J» ist in der Schweiz nun mal ein «Jot» und kein englisches «Jay».
«Dieses Land fühlt sich für mich nach Heimat an», sagt Yang trotzdem. Seit fast 20 Jahren lebt sie in der Schweiz. Auf der Terrasse ihres Hauses steht eine kleine hölzerne Bühne. Hier oben finde sie ihre Ruhe, also ihr «Jing». Das ist ein wichtiges Konzept der chinesischen Philosophie. Diese Ruhe brauche sie, um ihrem Schaffen freien Lauf zu lassen, fährt sie fort.
«Ungestört zu sein ist wichtig für die Vorstellungskraft», sagt Yang. Hier habe sie unter anderem «Erzählungen vom Fluss» komponiert. Es kannvon einem Kammermusik-Ensemble oder einem Orchester gespielt werden – aber auch solo. Nicht nur für verschiedene Formationen schreibt Yang Musik, sondern auch für verschiedene europäische und chinesische Instrumente.
Sie hat sich an den Instrumenten ihrer Nachbarn zu schaffen gemacht
Seit rund 40 Jahren komponiert sie schon – seit dem Alter von zwölf. Musiziert hat sie schon viel früher: Im Alter von sechs Jahren habe sie sich an den Instrumenten ihrer Nachbarn zu schaffen gemacht. Damals in Henan, ihrem Geburtsort. Die Pipa ist ein traditionelles chinesisches Zupfinstrument. Mit zehn Jahren habe sie 15-Jährige darin unterrichtet, lacht Yang und ergänzt:
Ihr erstes Geld hat sie im Alter von 13 Jahren verdient. «Ich arbeitete in einem Opern-Ensemble in meiner Heimatprovinz mit dem Spielen der Pipa, bevor ich das Studium in Komposition und Solo-Konzert-Pipa am Konservatorium in Shanghai aufnahm.» Schliesslich wurde sie vom chinesischen Nationalorchester aufgenommen. Später bereiste sie die Welt und spielte an vielen Orten – als Solistin oder in Orchestern. Im Jahr 1983 erhielt sie ihre erste Auszeichnung bei einem Wettbewerb für neue Musikkompositionen in Shanghai. Darauf folgten viele weitere.
«Klang hat eine eigene Sprache»
Das Schreiben eines Stückes beschreibt Yang als eine Reise ins Innere. «Viele meiner Werke reflektieren die Frage der Identität», erklärt sie. Heimat und Kultur seien unwiderruflich Teil der Identität. «Niemand kann dem entfliehen», fährt sie fort. Daher ist es ihr wichtig, sich ihrer Wurzeln stets bewusst zu sein. Das drückt sie mit ihrer Musik aus.
«Klang hat eine eigene Sprache.» Er könne nach China klingen. Oder nach dem Süden. Mit ihm könne man die Zuhörerin oder den Zuhörer an jeden Ort auf der Welt entführen. Oder an mehrere zugleich. Für das kommende Neujahrskonzert hat Yang genau dies vor.
Sie läuft einen Stock hinunter in ihr Arbeitszimmer, wo verschiedene chinesische Musikinstrumente an der Wand hängen sowie ein Flügel steht. Dann zeigt sie einige ausgedruckte Partituren, die sie sorgfältig in einer Mappe aufbewahrt, sowie das Programm für das Konzert – es wird fünfteilig sein. Yang sagt: «Ich arbeite noch daran.»
Zum einen wird sie bekannte Kompositionen interpretieren – beispielsweise von Henry Purcell oder Wolfgang Amadeus Mozart. Aber sie wird auch selbst geschriebene Stücke spielen, die von Schweizer Volksmusik inspiriert sind. Dies geben Titel wie «Im Aargäu sind zwöi Liebi» preis.
Wie das Klimpern von Wassertropfen in einem Tal
«Die letzten beiden Jahre waren hart für uns Kulturschaffende», sagt sie. Vor allem für sie als Freelancerin. Umso mehr freut sich Yang darauf, nun wieder als Solistin vor einem Publikum stehen zu können. Und dann ist dieses Konzert auch noch im Heimatmuseum Aarburg.
Yang holt ihre Pipa hervor – ein 30 Jahre altes Exemplar – und spielt auf ihr. Während sie das tut, vergisst sich die Virtuosin. Ihre Finger bedienen die Gold- und Silbersaiten – manchmal wild wie bei einer E-Gitarre, manchmal sanft wie bei einer Harfe.
Bisweilen klingt es wie das Klimpern von Wassertropfen in einem Tal. Dann spielt sie ein Fragment aus dem Stück «Segensfunken», das sie selbst geschrieben hat, aus ihrem bevorstehenden Konzert. Mit diesem wünscht sie sich und allen, dass die Welt bald wieder ins Gleichgewicht kommt.
Ilir Pinto
30-Jähriger aus Zürich, der die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern mit einem Volontariat beim Zofinger Tagblatt absolviert hat. Aktuell ist er Redaktor und Content Creator bei der Zürcher Kommunikationsagentur Viva.
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