Heute ist Weltkindertag. Am Beispiel einer Pflegefamilie in Zofingen macht das ZT auf die Situation von Kindern aus belasteten Familienverhältnissen aufmerksam.
Noch ist das sieben Monate alte Mädchen zu jung für Ohrringe. Vielleicht möchte es sich eines Tages Ohrlöcher stechen lassen – dies dürfte Katja Kistler jedoch nicht ohne Weiteres geschehen lassen. Dasselbe gilt fürs Haareschneiden oder Impfen. Um die Privatsphäre ihrer Familie zu wahren, möchte die 32-Jährige, die eigentlich nicht so heisst, anonym bleiben. Soraya liegt in den Armen von Katja Kistler und blickt neugierig nach der Katze. Obwohl sie bereits zwei Mal die Erfahrung mit einem Neugeborenen gemacht hat, merkt man, dass diese Situation hier neu für sie ist. Denn Soraya (Name geändert) ist ein Pflegekind. «Für Ohrringe braucht es das Einverständnis ihrer leiblichen Mutter», erklärt Kistler.
Heute ist Weltkindertag, ein in über 145 Staaten der Welt begangener Tag, um auf die besonderen Bedürfnisse der Kinder und Kinderrechte aufmerksam zu machen. «In der Schweiz leben derzeit rund 14 500 Kinder aus belasteten Familienverhältnissen nicht bei ihren Eltern, sondern in Pflegefamilien», sagt Karin Gerber von der Fachstelle Pflegekind Aargau mit Sitz in Baden. Genaue Zahlen existieren nicht, weil die Zuständigkeit für Angebote und Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe weitgehend bei den Kantonen und Gemeinden liegt.
«Schon als Kind wusste ich: Ich will Mami werden.»
Es ist ein gewöhnlicher Mittwochnachmittag bei den Kistlers in ihrem Wohnzimmer in Zofingen: Die achtjährige Tochter und der fünfjährige Sohn haben schul- bzw. kindergartenfrei und Kistlers Partner ist auf der Arbeit. Die Tochter nimmt Soraya auf ihren Schoss und Kistler erzählt: «Schon als Kind wusste ich: Ich will Mami werden.» Dieser Wunsch habe schon immer nebst eigenen auch Pflegekinder beinhaltet. Kistlers Partner ist zwar nicht der leibliche Vater ihrer Kinder, hat aber diesen Stellenwert in der Familie. «Er war von Anfang an damit einverstanden und unterstützte mich», sagt die Vollzeit-Mutter.
Um zusätzliches Einkommen zu erzielen, begann Kistler vor etwa sechs Jahren damit, als Tagesmutter für die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) tätig zu sein. Sie hütete Kinder anderer Familien. Sie habe damals überlegt, einen zusätzlichen Job zu suchen, um mehr Geld zu verdienen, liess es aber wieder bleiben. «Ich wollte immer für meine Kinder da sein», sagt sie. Und sie und ihr Partner kamen allein mit seinem Gehalt trotzdem durch. Es war ebenso zu dieser Zeit, als Kistler erfuhr, dass es einfacher ist, ein Pflegekind bei sich aufzunehmen, als sie es sich vorgestellt hatte.
Da Kistlers Sohn noch ein Baby war, kam dies vorerst nicht in Frage. Zudem dauert der Bewerbungsprozess ab der Anmeldung eine Weile, bis man ein Pflegekind aufnehmen kann. Die Vollzeit-Mutter arbeitete weiterhin als Tagesmutter. Sie sagt: «Ich wollte nicht des Geldes wegen ein Pflegekind aufnehmen.» Die Entschädigung decke nicht die Kosten, Zeit und die Kraft, die es für ein Pflegekind braucht. Kistler bezeichnet es aber als eine Win-win-Situation, denn sie müsse nicht mehr einen Zusatzjob in Erwägung ziehen und kann weiterhin als Vollzeit-Mutter für ihre beiden Kinder und das Pflegekind tätig sein. Um ein Pflegekind zu bekommen, kann man direkt über die KESB gehen, doch Kistler und ihr Partner entschieden sich für den Weg über eine Fachstelle. Also reichten sie ihr Bewerbungsdossier bei der Fachstelle Pflegekind Aargau ein.
In der Schweiz sind die Dienstleistungsanbieter Familienpflege (DAF) nicht staatlich und als Vereine organisiert. Im Auftrag von Behörden übernehmen und organisieren sie Pflegeplatzierungen. «Dabei ist uns wichtig, den Kindern bestmögliche Chancen zu geben und ihnen ein Umfeld zu schaffen, in dem sie sich wohl und geborgen fühlen», sagt Karin Gerber von der Fachstelle Pflegekind Aargau. Diese betreut und begleitet derzeit 23 Pflegefamilien und 36 Pflegekinder. Die Voraussetzung, um eine Pflegefamilie zu werden, sind: Die Pflegefamilie muss nach Persönlichkeit, Gesundheit und erzieherischer Eignung in der Lage sein, ein Pflegekind bei sich aufzunehmen. Dazu gehören auch die Wohnverhältnisse und ein Zimmer für das Pflegekind, damit gute Pflege, Erziehung und Ausbildung gewährt werden können. Und die leiblichen Kinder müssen mit der Aufnahme eines Pflegekindes einverstanden sein. Zudem soll der Altersunterschied zwischen Pflegeeltern und Pflegekind nicht grösser als 47 Jahre sein.
Wenige Tage nach ihrer Geburt kam sie in die Pflegefamilie
Vor sieben Monaten meldete sich die Fachstelle bei Kistler und erzählte ihr von Sorayas Fall. Ihre leibliche Mutter sei nicht in der psychischen Verfassung, um für Soraya zu sorgen. Das Paar sagte zu. Kister erzählt, sie und ihr Partner hätten sich für ein Neugeborenes bis sechsjähriges Kind beworben. «Wir waren aber froh, dass es ein Neugeborenes war, weil es das erste Pflegkind von uns ist.» So hatten sie einen leichteren Start. Die Fachstelle leitete das Dossier der Familie Kistler der Beiständin Sorayas weiter. Diese sagte auch zu. Das spielte sich innerhalb von weniger als einer Woche ab.
«Als meine beiden Kinder erfuhren, dass ein Pflegekind in unsere Familie kommt, freuten sie sich», erzählt Kistler. Doch ihre Tochter wendet ein: «Ich habe mich mehr gefreut!» Kistler lacht und erklärt, dass ihr fünfjähriger Sohn anfangs Angst davor gehabt hatte, dass sich das Pflegekind mit seiner Schwester gegen ihn verbünden würde. Dafür wäre Soraya aber sowieso noch zu klein. Und Eifersucht entstand auch keine. Im Gegenteil: Der Bub sorgt sich sehr um Soraya.
Wieso werden Pflegekinder nicht gleich adoptiert? «Eine Adoption hat eine ganz andere Ausgangslage», sagt Karin Gerber von der Fachstelle. «Die Eltern möchten die Kinder aus den verschiedensten Gründen nicht selbst begleiten und geben alle Reche und Pflichten ab.» Bei einer Platzierung in einer Pflegefamilie seien die Eltern nicht in der Lage, ihren Kindern das zu geben, was sie für eine gesunde Entwicklung benötigen, möchten aber Eltern bleiben. Laut Gerber sind die häufigsten Gründe psychische oder physische Erkrankungen, Suchtproblematik und häusliche Gewalt.
Soraya war nur ein paar Tage alt, als sie in ihre Pflegefamilie kam. Dort hat sie, rechtlich gesehen, ein Aufenthaltsrecht. Das Sorgerecht bleibt bei ihrer biologischen Mutter. Und Soraya hat weiterhin eine Beiständin. Aus diesen Gründen braucht es für gewisse Dinge wie wichtige ärztliche Entscheide oder eben das Stechen von Ohrringen das Einverständnis der Mutter. Mindestens zweimal jährlich findet ein Standortgespräch mit der Beiständin, Fachstelle und Angehörigen, zum Beispiel der Grossmutter, statt. Diese komme schon jetzt immer wieder mal vorbei, um das Mädchen zu besuchen, sagt Kistler. Soraya ist ein Dauerpflegekind. Das heisst, sie soll bis zum Alter von 18 Jahren gepflegt werden, sofern ihre Mutter nicht davor wieder imstande ist, sie wieder aufzunehmen. «Das Ziel ist, dass das Kind zurück in die Herkunftsfamilie kann», sagt Kistler. Es kann sein, dass es nie dazu kommen wird.
Für ihre Familie sei es nicht besonders speziell gewesen, dass sie nun ein Pflegekind hat, sagt Kistler. «Alle sind es gewohnt, dass ich oft Kinder dabeihabe.» Zudem habe es in ihrem Umfeld ausschliesslich positive Reaktionen gegeben. «Die anderen Mütter der Kinder, die mit meinem Sohn den Kindergarten besuchen, waren überrascht zu hören, dass wir ein neues Baby haben, denn sie hatten mich nie schwanger gesehen», erzählt Kistler belustigt. Es kam aber alles so, wie sie und ihr Partner es sich vorgestellt hatten. Was die Zukunft bringt, steht noch offen. «Bei Pflegekindern, die schon mit einem ‹Rucksäckli› kommen, weiss man oftmals, dass später eine Diagnose kommen kann», sagt Kistler. Man wisse nie, was während der Schwangerschaft geschehen ist, erklärt sie. Soraya ist im Moment aber gesund.
Es ist nicht einfach, ein Pflegekind zu betreuen. Vor allem, wenn es ein älteres Kind ist, das sich in einer neuen Familie integrieren muss oder aufgrund seiner Vergangenheit schwieriges Verhalten an den Tag legt. «Unseren Pflegefamilien zollen wir grössten Respekt», sagt Gerber von der Fachstelle. Diese bietet darum Weiterbildungskurse für Pflegeeltern an, in denen man lernt, worauf man achtgeben muss, wenn man ein Pflegekind betreut. Nebst Grundlagenkursen gibt es auch spezifische Weiterbildungsangebote wie zum Beispiel «Biografiearbeit» oder «Traumapädagogik».
Sie ist bereit für die kommende Zeit
Im Oktober wird Kistler den Kurs «Biografiearbeit», der von der Fachstelle durchgeführt wird, besuchen. In diesem lernt man auch, wie man dem Pflegekind beibringt, woher es kommt. «Sobald Soraya es verstehen kann, werden wir ihr erklären, dass wir nicht ihre leiblichen Eltern sind», sagt Kistler. So muss das Kind später keinen Schock erleiden. Der starke Bezug zur Herkunftsfamilie ist wichtig. Es darf nicht sein, dass Soraya ihre Pflegemutter «Mami» nennt und sie soll ihre richtigen Verwandten als solche erkennen, wenn sie zu Besuch kommen.
Noch kann Soraya keine Wörter aussprechen und Ohrringe wünscht sie sich auch keine. Es sei nicht Kistlers Absicht, Soraya in diese Richtung zu beraten – das dürfte sie als ihre Pflegemutter auch nicht. «Persönlich bin ich sogar eher gegen Ohrlöcher, weil ich finde, dass die Kinder diese Entscheidung selber treffen sollen», erklärt Kistler. Über solche Dinge macht sie sich aber noch nicht gross Gedanken, dafür ist es zu früh. Ihre mehrfache Mutterrolle bereite ihr viel Freude. Und sie kann sich vorstellen, weitere Pflegekinder aufzunehmen. «Aber sicher nicht bald», sagt sie. In den kommenden Jahren wird sie mit ihren beiden Kindern und dem Pflegekind alle Hände voll zu tun haben.
Ilir Pinto
30-Jähriger aus Zürich, der die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern mit einem Volontariat beim Zofinger Tagblatt absolviert hat. Aktuell ist er Redaktor und Content Creator bei der Zürcher Kommunikationsagentur Viva.
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