Wiliberg hat nur 170 Einwohnerinnen und Einwohner. Die kleinste Gemeinde des Kantons Aargau ist eine Idylle - und will keine Schlafgemeinde sein. Ein Besuch im kleinsten Aargauer Dorf.
Es ist auffällig still hier. Vielleicht, weil es gerade Mittagszeit ist. Die einzigen Lebenszeichen sind ein paar Vögel, die ihre Kreise durch die Luft ziehen, und eine weisse Katze, die mich argwöhnisch beobachtet. Die Gegend ist grün, so weit das Auge reicht. Ich gehe auf der Strasse, Trottoirs gibt es hier nicht. Ich war noch niemals in Wiliberg. Heute verbringe ich einen Tag in diesem malerischen Dörfchen, das 170 Einwohnerinnen und Einwohner zählt.
Die meisten Hausbesitzer haben zwei Autos. Daher wurde der Anschluss an den Busverkehr 2008 aufgehoben. Vorhin hat mich das sogenannte Ruftaxi nach einer 15-minütigen Fahrt hier ausgeladen – es ist die beste Lösung für Besuchende, um das Dorf vom Bahnhof Zofingen aus zu erreichen.
Die Ruhe wird plötzlich von zwei Motorradfahrern unterbrochen. Bei ihnen ist das Dorf auf der rechten Seite des oberen Uerkentals sehr beliebt, denn die Strasse hinauf zu ihm windet sich im Slalom. Auch bei Langläuferinnen und Langläufern ist Wiliberg beliebt: Auf dem Plateau zwischen dem Suhrental und Uerkental wird im Winter bei genügend Schnee eine Loipe (Skating und Klassisch) von rund 7 km Länge präpariert.
Von der Bauerngemeinde zur «fortschrittlichen Dorfgemeinschaft»
Wiliberg ist von der Landwirtschaft geprägt. So wurde die bevölkerungsmässig kleinste Gemeinde des Kantons Aargau vor einigen Jahrzehnten noch als reine Bauerngemeinde bezeichnet, doch die Bezeichnung trifft nicht mehr zu. Ich gehe weiter und erreiche den Landwirtschaftsbetrieb von Stephan Müller, wo mir dieser seine Kirschplantage zeigt – 430 Bäume auf 60 Aren.
Die komplette Plantage wird von einem Netz bedeckt und die einzelnen Baumreihen von Folien. Müller erklärt: «Das sind die Schutzmassnahmen gegen Regen und Hagel.» Wegen des diesjährigen Wetters sind 50 Prozent der Kirschernte verloren gegangen.
Er ist seit 24 Jahren bei der Feuerwehr
Im Dorfzentrum von Wiliberg, beim Gemeinde- und Schulhaus, steht das Feuerwehrmagazin. Im Jahr 2006 gründeten Wiliberg, Bottenwil und Uerkheim die gemeinsame Feuerwehr Uerkental. Zusammengearbeitet haben sie schon vor der Fusion. Etwa 100 Feuerwehrleute gehören dem Betrieb aktuell an, 16 davon leben in Wiliberg. «Wir sind als Einheit deutlich besser organisiert», erklärt Thomas Räss. Mit 19 Jahren ging der Wiliberger zur Feuerwehr und wurde im Jahr 2012 zum Kommandanten befördert.
Wir stehen im Magazin und Räss zeigt mir das zehn Tonnen schwere Tanklöschfahrzeug. Seitlich sind 18 Schläuche verschiedener Grössen angebracht und viele Dinge wie Lampen und Walkie-Talkies verstaut – alles an seinem Platz, damit es die Feuerwehrleute während eines Einsatzes schnell finden. Räss erklärt mir: «Wenn es irgendwo brennt, rechnen wir im Einsatz mit 50 Prozent der Alarmierten.»
Bei einem Grossbrand würden zum Beispiel alle aufgeboten werden und etwa 50 ausrücken. Das ist viel, wenn man bedenkt, dass nicht jeder und jede immer sofort verfügbar ist. «Wir Feuerwehrleute haben das Helfersyndrom», erklärt der Kommandant und lacht.
Einige holen sich Lebensmittel ab Hof
Ich treffe mich mit Gemeindeammann Patric Jakob. In Wiliberg gibt es kaum Gewerbe. Jakob sagt, es gebe vereinzelte Ein-Mann-Betriebe. Betriebe mit Mitarbeitern seien das Restaurant Moosersagi und Manfred Müllers Gartenpflege. Läden gibt es in Wiliberg keine – aber Verkäufe ab Hof.
«Einige holen noch immer regelmässig mit dem Milchkesseli Milch vom Hof – so wie früher», sagt Jakob. Ich frage ihn, was es für ihn bedeutet, in Wiliberg zu leben. «Man kommt nach der Arbeit nach Hause und fühlt sich wie in einer anderen Welt. Man kann abschalten», antwortet er.
Wir fahren zum Gemeinde- und Schulhaus im Dorfzentrum. «Das Gebäude wurde 1972 bis 1974 gebaut», sagt Jakob. Es wird nicht rege genutzt, denn die Gemeindeverwaltung befindet sich in der Nachbargemeinde Bottenwil. Jakob erklärt, dass hier die Gemeindeversammlungen und Gemeinderatssitzungen stattfinden. Ansonsten werde das Areal für Kultur genutzt; der Neujahrsapéro, die Bundesfeier und alle zwei Jahre der Dorfabend. Zuvor stand dort ein kleineres Schulhaus.
Wilibergs Schule musste schliessen, denn in Wiliberg gibt es nicht genug Kinder und die Geburten sind rückläufig. Nun stehen die Räumlichkeiten leer und die Gemeinde sucht nach einem neuen Verwendungszweck. Wilibergs Primarschülerinnen und -schüler werden ab dem kommenden Schuljahr mit einem Bus in die Nachbargemeinde Reitnau gefahren. Im Juni durften sie an einer Probefahrt teilnehmen.
40 Jahre lang prägte sie Wiliberger
Jakob zeigt mir ein schmuckes Holzhaus links von der Schule, in welchem damals eine Lehrerin gewohnt hat. Nach kurzer Zeit fühlte sie sich so zu Hause, dass sie es sich bauen liess. Ernst Müller, ein 68-jähriger Wiliberger, mit dem mich Jakob bekannt macht, erinnert sich sehr gut an die Lehrerin – Fräulein Speich hiess sie.
Er erzählt: «Jeder kannte sie. Sie war streng, eine Autoritätsperson.» So habe sie geschimpft, wenn sich Kinder auf der Strasse vor ihr versteckten, statt sie zu grüssen. Das findet Müller rückblickend gut. Er sagt: «Sie brachte uns Anstand und Höflichkeit bei.» 40 Jahre lang habe die Glarnerin in Wiliberg gelehrt und viele Wiliberger geprägt, schon Müllers Vater sei zu ihr zur Schule gegangen.
«Als ich ein Kind war», erzählt Müller, «gab es hier noch Pferde, die Heuwagen zogen, auf der Strasse. Diese war damals noch nicht geteert. Die wenigen Motorfahrzeuge wirbelten Staub auf. Wir Kinder holten daher Quellwasser vom Brunnen und befeuchteten die Strasse damit. Im Winter konnten wir auf der Bergstrasse von hier bis zum Restaurant hinunterschlitteln. Wir bildeten eine Kolonne.»
Das ist heute nicht mehr möglich, wegen des Verkehrs. Müller trauert dem damaligen Wiliberg nicht nach. Er sagt: «Fortschritt ist gut, wir wollen keine Schlafgemeinde sein.»
Besonders gut erinnert sich Müller an zwei grosse Feste: die Einweihung der Schule 1974 und das 200-Jahr-Jubiläum der Gemeinde 1981. Da seien viele Menschen gekommen und es war sehr viel los – nicht nur für Wiliberger Verhältnisse.
Wiliberger als Zigeuner und Vaganten
Um zeitlich noch weiter zurückzugehen, spreche ich mit René Rindlisbacher. Er ist im Jahr 2001 nach Wiliberg gezogen und befasst sich privat mit der Geschichte der Gemeinde. Zum ersten Mal erwähnt wurde der Name «Wiliperc» in der «Acta Murensia», einem Urbar des Klosters Muri, das um ca. 1150 geschrieben wurde.
Wiliberg war damals ein Steckhof, von dem das Kloster als Grundherr Zehnteinkünfte bezog. Wiliberg war, wie alle Steckhöfe, weder an den Flurzwang (gemeinsame, vorgegebene Felderbewirtschaftung) noch zur Abgabe von Militärdienstleistungen, Landessteuern et cetera verpflichtet, sagt Rindlisbacher. Er vergleicht dies mit einer Freihandelszone, von der Wiliberg profitierte.
Nachdem die Berner Herrschaft die Steckhöfe im Jahr 1751 als rechtsfreie Räume aufhob und sie entweder zu Gemeinden erhob oder in bestehende Gemeinden eingliederte, wollten die Wiliberger bewusst keiner Gemeinde beitreten, da sie von der bisherigen Ausgangslage profitierten, wie Rindlisbacher sagt.
«Irgendwann hatte Bern genug», sagt Rindlisbacher. Die Wiliberger erhielten in einer virtuellen Berner Steuergemeinde, der «Landsassenkooperation», denselben Status wie Zigeuner und Vaganten, sie wurden Berner Bürger zweiter Klasse. «Daraufhin hat sich Wiliberg in einer grossen Bittschrift bei den Hohen Herren von Bern beschwert. Sie wären doch brave Kirchgenossen in Reitnau und leisteten ohne Verpflichtung ihren Kriegsdienst und nun würden sie wie zwielichtiges Gesindel behandelt, klagten sie in ihrer Petition», erklärt Rindlisbacher.
«Wiliberg hat sich immer schlau verhalten», sagt Rindlisbacher. «Sie versuchten, einer reichen Nachbargemeinde beizutreten. Staffelbach, Attelwil und Reitnau lehnten ab, die Wiliberger waren ihnen zu arm. Bottenwil wurde bewusst nicht angefragt, dies war den Wilibergern zu wenig lukrativ.» Letztendlich wurde Wiliberg zu einer eigenen Gemeinde – am 16. Januar 1781 erteilten die Hohen Herren von Bern den Wilibergern das Gemeinderecht.
Ilir Pinto
30-Jähriger aus Zürich, der die Diplomausbildung Journalismus am MAZ in Luzern mit einem Volontariat beim Zofinger Tagblatt absolviert hat. Aktuell ist er Redaktor und Content Creator bei der Zürcher Kommunikationsagentur Viva.
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